Abschnitt II

JUNGE LIEBE - SEHNSUCHT UND GRENZEN

HOHELIED 2,8 - 3,5

Sulamith beschreibt in diesem Abschnitt eine Szene aus ihrer „Verlobungszeit“1). Sie haben sich ihre Liebe schon gestanden, bezeichnen einander als Geliebter, Schöne, Freundin usw., aber sie sind noch nicht verheiratet (evtl. im biblischen Sinn verlobt, aber das kommt aus dem Text nicht klar heraus und spielt eine untergeordnete Rolle, da Eheleute vor der Hochzeitsnacht nicht beieinander gewohnt und nicht miteinander geschlafen haben). Die Szene, die Sulamith beschreibt, spielt sich vor dem Haus ihrer Mutter ab.

Hohelied 2,8 Horch! Mein Geliebter! Siehe, da kommt er, springend über die Berge, hüpfend über die Hügel. 9 Mein Geliebter gleicht einer Gazelle, oder einem jungen Hirsch. Siehe, da steht er vor unserer Mauer, schaut durch die Fenster, blickt durch die Gitter. 10 Mein Geliebter hob an und sprach zu mir: Mache dich auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm! 11 Denn siehe, der Winter ist vorbei, der Regen ist vorüber, er ist dahin. 12 Die Blumen erscheinen im Lande, die Zeit des Gesanges ist gekommen, und die Stimme der Turteltaube lässt sich hören in unserem Land. 13 Der Feigenbaum reift seine Feigen, und die Weinstöcke sind in der Blüte, geben Duft. Mache dich auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm! 14 Meine Taube im Geklüft der Felsen, im Versteck der Felswände, lass mich deine Gestalt sehen, lass mich deine Stimme hören; denn deine Stimme ist süß und deine Gestalt anmutig. 15 Fangt uns die Füchse, die kleinen Füchse, welche die Weinberge verderben; denn unsere Weinberge sind in der Blüte! 16 Mein Geliebter ist mein, und ich bin sein, der in den Lilien weidet. 17 Wenn der Tag sich kühlt und die Schatten fliehen, wende dich weg, mein Geliebter, gleich einer Gazelle oder einem junge Hirsch auf den zerklüfteten Bergen.
Hohelied 3,1 Auf meinem Lager suchte ich ihn die ganze Nacht, den meine Seele liebt: ich suchte ihn und fand ihn nicht. 2 Ich will doch aufstehen und in der Stadt umhergehen, auf den Straßen und auf den Plätzen, will suchen, den meine Seele liebt. Ich suchte ihn und fand ihn nicht. 3 Es fanden mich die Wächter, die in der Stadt umhergehen: Habt ihr den gesehen, den meine Seele liebt? 4 Kaum war ich an ihnen vorüber, da fand ich, den meine Seele liebt. Ich ergriff ihn und ließ ihn nicht los, bis ich ihn gebracht hatte in das Haus meiner Mutter und in das Gemach meiner Gebärerin. 5 Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems, bei den Gazellen oder bei den Hirschkühen des Feldes, dass ihr nicht weckt noch aufwecket die Liebe, bis es ihr <selbst> gefällt!

1)
Ich benutze den Begriff „Verlobung“ hier in seiner modernen Bedeutung. Zur Zeit der Bibel war eine Heirat dreigeteilt. Es gab (1) den ehebegründenden Rechtsakt, die „Verlobung“ (!), dann (2) die Heimholung der Braut mit anschließender Hochzeitsfeier und (3) danach den körperlichen Vollzug der Ehe in der Hochzeitsnacht. Mit der Verlobung sind Mann und Frau rechtlich verheiratet, aber wohnen noch bei ihren Eltern. Weil eine Verlobung ehebegründend ist, denkt Joseph, als er von Marias Schwangerschaft hört, auch an eine Scheidung (Matthäus 1,19 „entlassen“) und nicht nur daran, im heutigen Sinn die Verlobung aufzulösen.