8,1 O wärest du mir gleich einem Bruder, der die Brüste meiner Mutter gesogen! Fände ich dich draußen, könnte ich dich küssen; und man dürfte mich nicht verachten.

Jetzt sind sie unterwegs und Sulamith bedauert es, dass ihre Kultur ihrer Leidenschaft Schranken auferlegt1). Sie muss sich von ihm fernhalten, obwohl sie ihn gern küssen würde. Sie hat solche Lust auf ihn, dass sie sich wünschte, er wäre ihr leiblicher Bruder. Natürlich darf man Brüder nicht küssen, wie man den Ehemann küsst, aber man darf sie wenigstens überhaupt küssen (s. a. Anmerkungen zu Hohelied 1,2). Sulamith sehnt sich nach Zärtlichkeit und spricht aus, was in ihrem Herzen ist.
Gleichzeitig entdecken wir aber auch ein Phänomen, das uns vielleicht fremd erscheint. Heute wird Individualismus über alles gestellt. Ich will mich „ver¬wirklichen“ und niemand darf mir in mein Lebenskonzept hineinreden. Deshalb will ich auch Liebe leben, wie es mir gefällt; sollen sich andere ruhig gestört fühlen, das spielt keine Rolle. Bei Sulamith ist das anders. Sie will nicht provozieren; nicht einmal als Königin. Sie akzeptiert gesellschaftliche Schranken und übt Zurückhaltung. Liebe benimmt sich eben nicht „unanständig“ (1Korinther 13,5).
Dahinter steht das Prinzip, dass es in jeder Beziehung eine intime Seite gibt, die nicht in die Öffentlichkeit gehört. Meine Ehe - vor allem die körperliche Seite meiner Ehe - darf und soll für die Gesellschaft ein Geheimnis bleiben. Als Ehepaar genießen wir einander, aber nicht so, dass jeder es sieht. Wir provozieren nicht und wir geben unser Intimleben nicht der Öffentlichkeit preis. Wir haben Lust aufeinander, aber wir leben sie aus, wenn wir allein sind, weil wir niemanden verletzen wollen und weil wir wissen, dass eine Beziehung, die sich zur Schau stellt, an Innigkeit verliert.
Intimität, die ohne Intimsphäre auskommt, wird trivial. Damit es nicht so weit kommt, behalten wir bestimmte Informationen für uns. Wir reden nicht darüber, wie es „im Bett“ war und gehen nicht mit anderen Pärchen in die Sauna. Es geht niemanden etwas an, was meine Frau anzieht, wenn ich mit ihr schlafe, oder was unsere bevorzugten „Stellungen“ sind. Dieser Teil unsere Ehe ist ein Geheimnis, das wir hüten. Wir geben es nicht preis2), sondern sorgen dafür, dass es seine exklusiv verbindende Funktion behält.

1)
Der Kuss zwischen Mann und Frau war unschicklich. Davon ausgenommen sind Küsse zwischen Geschwistern (Hohelied 8,1) und Cousin/Kusine (1Mose 29,11).
2)
Es sei denn als Andeutungen und Neckereien in der Gegenwart Dritter, die für Außenstehende unverständlich bleiben, im seelsorgerlichen Gespräch oder wenn wir unsere Kinder über Sexualität aufklären.