8,5a Wer ist sie, die da heraufkommt von der Wüste her, sich lehnend auf ihren Geliebten?

Das letzte Mal, als Sulamith im Hohelied aus der Wüste heraufkommt (Hohelied 3,6), wird sie in einer Sänfte getragen, umgeben von 60 schwerbewaffneten Helden. Jetzt kommen sie als Paar und sind allein. Das Bild will die zärtlich-vertraute Nähe zwischen den Verliebten beschreiben, die an ihrer Beziehung genug haben. Das ist die Art von Beziehung, die sich Gott nicht nur für frisch Verliebte, sondern für reife Ehepaare wünscht.

Wann seid ihr das letzte Mal verliebt-verträumt Hand in Hand spazieren gegangen und habt die ganze Welt um euch herum vergessen?


8,5b Unter dem Apfelbaum habe ich dich geweckt.

Hier spricht Sulamith zu Salomo1). Hatte sie im letzten Vers noch davor gewarnt, die Liebe aufzuwecken, so spricht sie jetzt davon, wie sie Salomo aufgeweckt hat2).
In absoluter Vertrautheit haben sie Zeit allein in der freien Natur verbracht. Fernab vom Trubel des Palastes haben sie einander genossen und sind sich wieder nahe gekommen.

8,5c Dort hat deine Mutter dich zur Welt gebracht, dort hat sie Wehen gehabt, die dich geboren.

Mit dort ist wahrscheinlich nicht der Apfelbaum als Ort gemeint, sondern das Genuss-Prinzip „Apfelbaum“. Schon in Hohelied 2,3, hat Sulamith danach Sehnsucht, im Schatten ihres „Apfelbaums“ zu sitzen, seine „Frucht“ ist ihrem „Gaumen süß“ und es sind die Früchte dieses Baumes, die sie, die Liebeskranke, erquicken (Hohelied 2,5) . Sulamith bringt mit diesem Satz zum Ausdruck, dass Salomo ein Kind der Liebe ist3).
Der Aspekt der Empfängnis stellt die Macht der Liebe in einen zweiten Zusammenhang: Familie. Sexualität ist nicht nur Lustbefriedigung, sondern dient auch der Familienentstehung. Das ist im Hohelied nicht der Schwerpunkt, aber trotzdem eine Realität.

1)
Das „dich“ ist männlich (maskulines Suffix).
2)
Offen bleibt, ob es sich dabei um einen Mittagsschlaf oder um eine Übernachtung handelte. Beides ist denkbar, allerdings ist die Übernachtung im Freien damals recht gefährlich gewesen und von daher unwahrscheinlich.
3)
Die damit verbundenen tragischen Umstände, u.a. der Tod von Batsebas erstem Ehemann, Uria, und der Tod des ersten Kindes, bleiben unerwähnt. Hier stoßen wir auf ein Prinzip der Poesie, dessen man sich bewusst sein muss: Poesie färbt die Realität schön. Wo Lieder gesungen werden, geht es um ausgewählte Emotionen. Der „Bauch“ tritt an die Seite des „Kopfes“. Übertreibungen sind genauso erlaubt wie dramatische Bilder, die nur einen Teil der Realität darstellen (vgl. zum Beispiel das Klagelied Davids über Saul und Jonathan, 2Samuel 1,17-27, mit den Ereignissen davor). Ich möchte deshalb davor warnen, theologische Konzepte allein aus poetischen Texten abzuleiten. Lieder sind nicht ausgewogen und wollen es auch nicht sein. Der Schwerpunkt des Hohelieds liegt auf der Innigkeit der Liebenden. Dieser Punkt wird, weil er so zentral ist, herausgearbeitet und in immer neuen Bildern vorgestellt. Was das Buch dazu sagt ist wahr, aber einseitig dargestellt. Und wir wissen das, denn wir kennen die „alltägliche Ehe“ mit ihrem Trott, ihren Gewohnheiten und ihrer wenig aufregenden Routine. Und deshalb verstehen wir auch fast intuitiv, wie sehr wir Anschaulichkeit und Pathos des Hohelieds brauchen. Ohne diese Eindringlichkeit verlieren wir im grauen Alltag den Blick für das bunt-erotisch Sinnliche unserer Zweierschaft. Das Hohelied darf parteiisch für die Leidenschaft eintreten, weil sie es ist, die so wenig Fürsprecher besitzt. Das Hohelied darf einseitig sein, weil es mit Wucht den Finger in die Wunde legen will, wie man einen Treiberstachel ins Hinterteil eines Ochsen rammt, um ihn zum Gehen zu bewegen. Was sind wir oft für lahme Schnecken, wenn es um Sinnlichkeit und Hingabe geht.