1,5 Seht euch um unter den Nationen1) und schaut und erstaunt! Ein Wunder2)! Denn ich wirke ein Werk in euren Tagen - ihr würdet es nicht glauben, wenn es erzählt würde.

Gott schlägt Alarm! Niemand ist auf das, was kommt, vorbereitet. Vor ihren Augen wird der Allmächtige Weltgeschichte schreiben und schier Unglaubliches vollbringen. Wenn die Zukunft erzählt würde, man würde dem Bericht nicht glauben. Noch zu ihren Lebzeiten (in euren Tagen) wird passieren, was Habakuk hier verheißt. Gott ist langsam zum Zorn, aber wenn er Gericht übt, dann häufig mit einer erschreckenden Direktheit und umfassenden Unnachgiebigkeit.
Worin besteht das Unglaubliche an Gottes Vorhersage? Wahrscheinlich nicht darin, dass ein Volk zur Weltmacht aufsteigt. Schon eher darin, dass dieser Aufstieg schnell vonstatten geht und dass dieses grausame Volk seine Macht zerstörerisch gegen das Volk Israel, gegen Jerusalem und den Tempel richten wird. Niemand würde glauben, dass Gott seinen (!) Tempel nicht beschützen würde. Habakuk hatte sich Gericht über die Bösen gewünscht, aber angesichts dieser Aussichten, wird selbst ihm das Handeln Gottes unverständlich!
Was Israel hier, am Ende des siebten Jahrhunderts, erlebt, würde sich im ersten Jahrhundert wiederholen. Ein böses Volk trifft unvorbereitet auf den Propheten Gottes, hört nicht auf seine Warnungen, bittet sogar als Höhepunkt aller Ungerechtigkeit darum, „dass er umgebracht werde“ (Apostelgeschichte 13,28) und erfährt innerhalb von einer Generation Deportation sowie die Zerstörung von Jerusalem und Tempel.


1)
Hier liegt ein Textproblem vor! Der MT und einige griechische Manuskripte unterstützen diese Leseart. Der Alternativtext „Seht ihr Verächter“ wird von dem Qumran-Text (1QpHab, Achtung: Der Text selbst ist nicht erhalten, der Inhalt aus Anmerkungen rekonstruiert!) und dem NT-Zitat in Apostelgeschichte 13,41 gestützt. Die LXX übersetzt so, dass beide Textvarianten zugrunde liegen könnten. Ich entscheide mich für den MT gegen das NT-Zitat, weil der MT gut überliefert ist, im Zusammenhang einen sehr guten Sinn ergibt und das NT-Zitat auch dann für Paulus „funktionieren“ würde, wenn er Habakuk in der obigen Form zitiert hätte; der Schwerpunkt der Aussage ist nämlich die Tatsache, dass Gott Dinge tut, die so erstaunlich sind, dass man sie erst einmal nicht glauben kann! Hätte Paulus den MT-Text zitiert, der ihm offenbar nicht im Kopf war, dann hätte das Zitat sogar noch besser gepasst! Dass Paulus eher frei zitiert (vielleicht sogar in einer auf die aktuelle Situation angepassten Form) wird auch daran ersichtlich, dass er den Text um „und verschwindet“ ergänzt. Er greift das Habakuk-Prinzip auf und wendet es auf seine Generation an. Wenn das Böse zur Zeit Habakuks nicht bestehen durfte, wie viel mehr zu seiner Zeit! Wenn sie sich nicht vor einem Gott fürchteten, der Unglaubliches (wieder die Zerstörung des Tempels!) zu tun bereit war, auf wen wollten sie dann hören?
2)
W. und erstaunt staunend, d.h. erstaunt über die Maßen.