6,8 1)Es gibt sechzig Königinnen und achtzig Nebenfrauen und Jungfrauen2) ohne Zahl.
6,9a Eine <nur> ist meine Taube, meine Vollkommene;

Hier treffen wir auf das merkwürdigste Bild im ganzen Hohelied. Es kommt uns fast wie Hohn vor, wenn er sie mit den anderen Frauen in seinem Harem vergleicht. Wie kann Salomo Sulamith über alles lieben, wenn er schon rein statistisch gar keine Zeit für sie hat? Was soll alles Schmachten und Gesäusel, wenn weitere sechzig Königinnen und achtzig Nebenfrauen auf ihn warten? Und welchen Wert hat das Konzept der Monogamie, wenn Salomo sich eine solche Menge von Frauen leistet?
Ich will versuchen, das zu erklären. Fangen wir mit dem Vergleich an: Er ist als Bild schnell gedeutet. Die Betonung liegt auf der Menge von Frauen, die Salomo hat, und darauf, dass Sulamith ihnen allen überlegen ist. Sie ist absolut einzigartig. Sie war immer (vgl. Hohelied 5,2) und wird immer seine Vollkommene, seine Taube sein. Niemand macht ihr in seinem Herzen diese Position streitig.
Aber warum hat Salomo die anderen Frauen geheiratet? Hier mag seine Funktion als König hineinspielen. Er ist Mann Gottes und zugleich Produkt seiner Zeit. Für einen Herrscher zu seiner Zeit war es normal und politisch geboten, Frauen aus Gründen der Staatsräson zu heiraten. Das waren wohl kaum Liebesheiraten. Das „Gesetz für den König“ in 5Mose 17,14ff verbietet dem König nur, die Frauen „zahlreich“ (5Mose 17,17) zu machen. Es sollen nicht zu viele sein, wie im Fall von Salomo, der mit 1000 Frauen deutlich übertreibt (1Könige 11,3).
Bei Salomo und allen anderen Beispielen in der Bibel, wo Männer mit mehr als einer Frau verheiratet sind (zum Beispiel Jakob, Elkana oder David), stößt man auf Probleme in der Partnerschaft: Sei es, dass es unter den Frauen Missgunst gibt (1Mose 30,1; 1Samuel 1,6), sei es, dass sie offen gegen den Mann rebellieren (2Samuel 6,20), oder sei es wie im Fall von Salomo, dass die ausländischen Frauen den Glauben des Ehemanns nicht annehmen und sogar dafür sorgen, dass er seinen verliert (1Könige 11,9).
Noch etwas ist interessant: Wenn wir einen genaueren Blick ins Herz dieser Männer tun, sehen wir, dass sie nur an einer Frau mit Hingabe hängen können. Das ist so bei Jakob mit Rahel (1Mose 29,30), bei Elkana mit Hanna (1Samuel 1,5) und bei Salomo mit Sulamith (vorausgesetzt, sie ist real). Wie die Schöpfung zeigt, ist Gottes Ideal die lebenslange Einehe zwischen einem Mann und einer Frau (Matthäus 19,4-6). Und deshalb glaube ich, dass sich das Herz eines Mannes nach der Einen sehnt, die es verehren und der es dienen darf. Salomo kann seine vielen Frauen als Hintergrund nutzen, um die Vollkommene ins rechte Licht zu rücken, aber er braucht sie nicht, er hängt nicht mit seinem Herzen an diesen Frauen.

6,9b sie ist die einzige ihrer Mutter, sie ist die Auserkorene ihrer Gebärerin.

Eine Mutter, die nur eine einzige Tochter (und womöglich viele Söhne) hat, hängt besonders an ihrer Tochter. Sulamith ist nicht nur in Salomos Augen etwas Besonderes, es gibt andere Menschen, denen sie sehr viel bedeutet.

6,9c Töchter sahen sie und priesen sie glücklich3), Königinnen und Nebenfrauen rühmten sie.

Egal, wen Salomo fragt, von der engsten Beziehung (Gebärerin) über die Frauen im Palast (Königinnen und Nebenfrauen) bis hin zu den oberflächlichen Beziehungen innerhalb der Jerusalemer Gesellschaft (Töchter Jerusalems), alle sind sich einig: Sulamith ist einzigartig.
Die Verbindung aus preisen und rühmen findet sich nur noch in Sprüche 31,28, wo die Männer der Familie ihre wunderbare Ehefrau und Mutter vor allen loben. Ich finde es bemerkenswert, dass es hier Frauen sind, noch dazu Frauen, die denselben Mann lieben bzw. mit demselben Mann verheiratet sind, die ihr ein solch gutes Zeugnis ausstellen. Sie, die gar keinen inneren Antrieb verspüren sollten, Sulamith zu loben oder ein gutes Haar an ihr zu lassen, ihre schärfsten „Konkurrentinnen“ um Salomos Herz, bescheinigen ihr, dass sie eine besonders gesegnete und bewundernswerte Frau ist.
Tipp: Wenn du hörst, dass eine andere Person deinen Ehepartner lobt, dann sage es ihm. Das Lob von Dritten ist manchmal ermutigender (oder sogar anspornender?) als die Anerkennung aus der Familie.

1)
Es ist in den Versen Hohelied 6,8-10 nicht klar, zu wem Salomo spricht. Wahrscheinlich gibt der Text die Gedanken wieder, die ihm durch den Kopf gehen.
2)
Wahrscheinlich handelt es sich um angeheiratete Frauen, die noch keine Kinder zur Welt gebracht haben.
3)
Im Sinn von: Sie bezeichneten sie als von Gott gesegnet.