6,2 Mein Geliebter ist in seinen Garten hinabgegangen1), zu den Würzkrautbeeten, um in den Gärten zu weiden und Lilien zu pflücken.

dann kann man an einen realen Garten denken, aber das letzte Mal, als von einem „Garten“ die Rede war, handelte es sich um ihren eigenen Körper in der Hochzeitsnacht (Hohelied 4,16; 5,1). Wie kann Salomo in seinen Garten hinabgehen, um Lilien zu pflücken, ohne bei ihr zu sein? Was versucht Sulamith hier auszudrücken? Ganz einfach: Sie beschreibt, was sie fühlt. Sie fühlt sich ihm ganz nahe; so nahe wie in der Hochzeitsnacht. Es ist völlig egal, auf welchem Weg sie ihm real wieder begegnet, solange die innere Trennung überwunden ist. Die Begegnung mit den Wächtern und das Nachdenken über Salomos Schönheit haben bei ihr einen Prozess der Erkenntnis ausgelöst. Sie weiß, wo sie ihn „suchen“ muss, weil er in seinem Herzen nie weggegangen ist.
Er war ihr immer ganz nah. Hat sie die Tür vielleicht deshalb nicht geöffnet, weil sie sich seiner Liebe nicht völlig bewusst war (Hohelied 5,3)? Ich denke, ja! Er hat nie aufgehört, sie zu lieben, aber sie hatte für einen Moment den Glauben an diese Liebe verloren. Sobald ihre Liebe neu entflammt, steht er (bildlich) vor ihr.
In unserem Verhältnis zu Jesus gibt es vergleichbare Situationen. Sünde zerstört unsere Beziehung zu unserem Herrn. Wir sündigen, weil wir für einen Moment nicht glauben können, dass er es mit seinen Geboten wirklich gut mit uns meint. Wir verschließen unser Herz vor seinem Klopfen und lassen ihn draußen „im Regen stehen“.
Dabei vergessen wir, dass seine Liebessprache der Gehorsam ist (Johannes 14,21). Sind wir ungehorsam, verletzen wir ihn und in der Folge geht die Gemeinschaft mit ihm verloren (1Johannes 1,5-6). Als geliebte Kinder lässt Gott uns aber nicht einfach ziehen. Er wird uns mit „Seilen der Liebe“ (Hosea 11,4) und „Schlägen“ (Hebräer 12,6) zu gewinnen suchen und in dem Moment, wo wir über unseren Herrn nachdenken und neu von seiner Herrlichkeit ergriffen sind2) (vgl. 2Korinther 4,4; Philipper 3,12), da steht er auch schon vor uns, weil er nie weggegangen ist.
Weil Salomo in der körperlichen Freude an Sulamith zu Hause ist, muss sie nicht ihn finden, sondern sich von ihm und seiner Liebe „finden“ lassen. Er befindet sich am „Ort der Liebe“ und wenn sie will, kann sie ihn dort treffen. Salomo hegt keinen Groll auf Sulamith, zieht sich nicht zurück und er schmollt auch nicht (vgl. 1Korinther 13,5). Seine Liebe ist ungebrochen und andauernd. Sie kann ihm in dem Moment begegnen, wo sie ihn als ihren wahren Liebhaber erkennt. Wenn sie bereit ist, steht er vor ihr.
Die sechste Lektion zum Thema „Ehekrach“ lautet: Werde nicht bitter und zieh dich nicht zurück!
In der Praxis erscheint mir das der schwierigste Teil bei einem Streit. Ich werde verletzt und soll mich nicht zurückziehen? Ja, und zwar, weil es dazu keinen Grund gibt. Zum einen ist es einfach klug, nicht jeden Fehler des Partners auf die Goldwaage zu legen (Sprüche 19,11). Wo sich Erbarmen, Güte, Milde und Langmut finden - und diese Dinge sollten in deiner Ehe vorhanden sein! -, da sollte es kein Problem sein, dem Partner zu vergeben und ihn zu ertragen (Kolosser 3,12-13).
Außerdem sei ehrlich: Was du dem Partner jetzt vorwirfst, fast egal was es ist, hast du das nicht auch schon selbst anderen angetan (vgl. Prediger 7,19-22)? Wenn ich die Summe all meiner Sünden sehe, für die Jesus am Kreuz bezahlt hat, fallen die paar Verfehlungen meines Ehepartners nicht ins Gewicht. Ich bin ein „Schwein“; zugegeben ein errettetes Schwein, aber eben trotzdem ein Schwein. Ich habe kein Recht, den Heiligen zu spielen und meinen Partner zu richten (Jakobus 4,11), noch weniger, mich von ihm zurückzuziehen. Gerade in einem Moment moralischer Schwäche braucht mich mein Ehepartner als verständnisvollen Lastenträger (Galater 6,1-2) an seiner Seite!

An Ehemänner: Wie sehr musst du mit Bitterkeit und Groll kämpfen, wenn deine Frau einen Fehler macht? Wie weit entfernst du dich beim Streit innerlich von deiner Geliebten? Hast du dann noch Lust, mit ihr zu schlafen?

An Ehemänner: Hast du ein Problem mit Bitterkeit? Lerne unbedingt Kolosser 3,19 auswendig und lass dir helfen!


1)
Damit ist nicht gemeint, dass Salomo sich in der Zwischenzeit in seinem Harem mit einer der anderen Ehefrauen vergnügt hat. Zum einen würde Sulamith das gar nicht wissen, zum anderen wäre Hohelied 6,2 dann ein Ausdruck größter Entfremdung und das passt inhaltlich kein bisschen zu den nächsten beiden Versen (Hohelied 6,3-4), die gerade das Gegenteil betonen, nämlich die Nähe der Liebenden zueinander. Hinzu kommt die mit dieser Interpretation verbundene inhaltliche Lektion: Wenn du Streit hast, geh zu einer anderen Frau? Das ist wohl kaum eine passende Auslegung vor dem Hintergrund des myrrheträufelnden Riegels, des zeilenlangem Ausdrucks der Bewunderung und der sinnlichen Beteuerungen gegenseitiger, leidenschaftlicher Liebe.
2)
Um theologisch exakt zu sein: Hier fehlt das Sündenbekenntnis (1Johannes 1,9). Und es kann fehlen, weil es bei einem Bekenntnis nicht unbedingt auf die Worte ankommt, wenn das ganze Leben von der Echtheit der Umkehr Zeugnis ablegt.