1,2 Wie lange, HERR, habe ich gerufen, und du hörst nicht! Ich schreie zu dir: Gewalttat! und du rettest nicht?

Mit HERR wird der Eigenname Gottes wiedergegeben. Mit diesem aus vier Konsonanten bestehenden Namen „JHWH“ offenbart sich Gott dem Mose am Sinai (2Mose 3,14). Die Aussprache ist bis heute unklar. Ziemlich sicher ist nur, dass die alte Vorstellung, der Name würde „Jehova“ ausgesprochen, falsch ist1).
Die Frage „wie lang?“ findet sich in der Bibel sowohl bei Gott selbst (2Mose 16,28; 4Mose 14,11) als auch bei den Märtyrern (Offenbarung 6,10). Sie ist mehr als erlaubt, wenn sie in einem Kontext des Vertrauens geäußert wird. Habakuk bittet um Rettung, er weist Gott auf offensichtliche Sünde im Land hin, aber er muss nun schon länger erleben, dass Gott nicht reagiert. Habakuk ist ein Beobachter, ein Beurteiler und ein Beter. Die Gewalttat im Land lässt ihn nicht kalt. Er ist an der Entwicklung der Gesellschaft interessiert. Und als gottes¬fürchtiger Mensch, geht er davon aus, dass Gott das auch ist! Seine Klage ist ein Ausdruck seines Unverständnisses. Wie kann Gott, der das Böse hasst, dem Bösen so viel Freiraum gewähren? Müsste ein guter Gott nicht auf die gerechtfertigten Bitten seines Propheten eingehen? Wie passen unbeantwortete Gebete zu einem liebenden Gott?
Sie passen, denn Gott ist ein souveräner Gott mit eigenem Zeitplan und lässt sich manchmal Zeit, um auf die verzweifelten Schreie seines Volkes zu hören (vgl. Zeit in Ägypten, Zeit der Richter). Er ist der Herr der Weltgeschichte, der sich nicht drängen lässt. Hiob formuliert ganz ähnlich wie Habakuk, wenn er seine Freunde fragt: „Wie lange wollt ihr meine Seele plagen… ?“, um dann fort zu fahren: „Siehe, ich schreie: Gewalttat! – und werden nicht erhört!“ (Hiob 19,2.7) Zusammen mit Psalm 22,5-7 ist also das Warten auf Gottes Errettung trotz andauernden Betens für den Gerechten eine durchaus typische (und gewinnbringende) Erfahrung (vgl. Johannes 11). Es gibt also „logische“ Gründe dafür, dass Gott nicht hört, aber Habakuk stellt trotzdem seine Frage. Warum tut er das? Weil der Gerechte nicht nüchtern-kaltherzig dem Unrecht als einem „Ding“ gegenüber stehen kann. Der Niedergang einer Gesellschaft ist kein abstraktes Phänomen, sondern äußert sich in konkreten Erfahrungen von Menschen. Gewalttat ist praktisch und verlangt vor allem nach Rettung, nicht nach einer Erklärung. Der Gerechte will das Böse nicht diagnostizieren, sondern bekämpfen; und er sieht nicht nur Zahlen und Statistiken, sondern die Schicksale, die sich dahinter verbergen. Wie Jesus hat er den Einzelnen im Blick und sieht seine Not und betet gegen den damit verbundenen Schmerz an… weil er nicht anders kann. Es ist eine Sache, zu wissen, wie Gott richtet, dass sich der Herr der Welt nicht manipulieren lässt oder dass sich im Harren auf Gott viel Gutes verbirgt, aber dieses Wissen ist für das Verarbeiten von Unrecht nicht genug! Wer erlebtes Leid nur „vergeistigt“ und erklärt, schadet letztlich seiner Seele. Leid löst sich nicht dadurch auf, dass wir die Warum-Frage „klären2)“. Wir brauchen Trost (vgl. Matthäus 5,4) und der Weg zum Trost führt über die Klage.
„… Eine Klage ist in der Bibel etwas ganz Normales. Sie ist ein Ausdruck des Glaubens und der Echtheit meiner Beziehung. Ich habe einen Gott, bei dem ich meine Sorgen benennen und abgeben darf! Eine Klage ist keine Anklage, ich mache Gott keinen Vorwurf und fange nicht an zu murren oder Gott Vorschriften zu machen. Es gibt Klage, die Anklage ist und wie Ungehorsam einem ungläubigen Herzen entspringt, das nicht glaubt, dass Gott es gut meint. Aber es gibt eben auch die Klage als normale Reaktion eines geängstigten oder verwirrten Herzens. Ich bin frustriert, habe Angst, werde traurig oder bin niedergeschlagen und weil mein Herz an Gott hängt und weil ich glauben kann, dass er es gut mit mir meint, deshalb wende ich mich mit meinem Frust, meiner Angst, meiner Traurigkeit oder meiner Niedergeschlagenheit an ihn. Jesus hat das so gemacht und wir machen es ihm nach. Wenn wir schweigen – womöglich weil wir glauben, dass es geistlich ist, nie frustriert, nie ängstlich, nie betroffen oder nie deprimiert zu sein – dann ist das dreifach falsch:

  • wir handeln so, als könne Gott uns nicht helfen – aber das kann er
  • wir handeln so, als wären wir Gott egal – aber wir sind ihm nicht egal
  • wir handeln so, als wäre das Böse nicht so schlimm – aber das ist es!

Für mich ist es ein unschätzbares Vorrecht, ein Ausdruck meines Glaubens und der Echtheit meiner Beziehung, dass ich Gott die Dinge sagen darf, die ich nicht verstehe, die keinen Sinn ergeben, die mir zu viel sind, die mir Angst machen, die mich runter ziehen, die mich zum Zweifeln/Verzweifeln bringen.“ (Ansprache GoDi 2013)


1)
Der JHWH des Alten Testaments ist nicht nur Gott, der Vater, sondern (mindestens) auch Gott, der Sohn. Um für diese These nur eine Belegstelle anzuführen: In Matthäus 11,10 wird die Lebensaufgabe von Johannes dem Täufer beschrieben. Er ist der Herold Gottes. Jesu Zitat stammt aus Maleachi 3,1. Dort ist es der HERR der Heerscharen, der spricht. Und die Aufgabe von Johannes besteht darin, den Weg für den „HERRN der Heerscharen“ vorzubereiten. Als Jesus auf die Erde kam, kam „Gott, der Sohn“, aber das ist gleichzeitig - und hier stoßen wir an die Verständnisgrenzen des Dreieinigkeit-Konzeptes - der „HERR der Heerscharen“ des Alten Testaments. Wo also im Alten Testament der „HERR“ (JHWH) spricht, spricht nicht nur Gott, der Vater, sondern auch Gott, der Sohn, und das ist unser Herr Jesus Christus.
2)
Wirklich klären können wir sie ohnehin nicht! Wir bräuchten Gottes Perspektive, sprich Offenbarung, um eine halbwegs abschließende Antwort auf ein bestimmtes Leid-Phänomen zu finden.