Sprüche 30,3

Sprüche 30,2.3

Fürwahr, ich bin zu dumm, um ein Mensch1) zu sein, ja, Menschenverstand habe ich nicht. *Und Weisheit habe ich nicht gelernt, aber die Einsicht des Allerhöchsten möchte ich verstehen2).

Aus Gründen der Rhetorik macht Agur sich etwas kleiner als er in Wirklichkeit wahrscheinlich war, damit Gottes Weisheit neben seiner eigenen Dummheit umso deutlicher strahlt. Allerdings gilt, was er sagt, grundsätzlich für jeden Menschen. Als Menschen brauchen wir alle Weisheit, also Einsicht in den religiös-ethischen Bereich unseres Menschseins. Agur erlebt, dass er sich anstrengen kann, wie er will, und doch am Ende nur immer wieder mit seinen eigenen Defiziten konfrontiert wird. Es will ihm einfach nicht gelingen, weise zu werden. Witziger Weise hätte ein Mann, der wirklich dumm wäre, diese weisen, da einsichtigen Zeilen nie schreiben können! Indem Agur also bekennt, dass es ihm ohne göttliche Offenbarung an echter Weisheit fehlt, macht ihn umso mehr zu einem Weisen. Jahrhunderte später3) soll Sokrates im Rahmen seiner Apologie vor dem athenischen Volksgericht ähnlich formuliert haben: „Ich weiß, dass ich nichts weiß!“ Im Umkehrschluss ist jeder, der meint, aus eigenem Nachdenken und Forschen weise geworden zu sein, ein unheilbar dummer Narr. Echtes Menschsein beginnt nämlich damit, dass ich mir meiner Grenzen und meiner Hilfsbedürftigkeit bewusst werde.

Wenn Agur davon spricht, dass er Weisheit nicht gelernt hat, dann will er damit auf pointierte Art zum Ausdruck bringen, dass er die Qualität von Weisheit nicht (aus eigenem Nachdenken) erworben hat, die nötig wäre, um den Tiefen der Lebensrätsel zu begegnen4), mit denen der Schöpfer seine Geschöpfe konfrontiert. Das, was der Allerhöchste dem Suchenden an Einsicht anzubieten hat, das kann Agur aus sich selbst heraus oder von anderen, menschlichen Lehrern nicht erlernen. Dafür braucht es Offenbarung von und Beziehung zu dem Gott, der alles weiß und den Überblick hat. Menschliche Genialität ist im Angesicht der Aufgaben und Fragen, vor die uns das Leben stellt, nicht mehr als hilfloses Gestammel. Wir taugen nicht als Referenzpunkt unseres eigenen Lebens. Um wirklich weise zu werden, müssen wir die Relativität und Gefallenheit aller menschenerdachten Erkenntnis(-theorie) zugeben5) und in der Begegnung mit dem lebendigen Gott transzendieren. Wenn alles von einem weisen und souveränen Gott kommt, der alle Dinge nach seinem Willen geordnet hat, dann braucht jede wahre Beschreibung des Lebens einen Zugang zu seinem (!) umfassenden Wissen. Und sei dieser Zugang auch inhaltlich nicht umfassend, weil Gott uns in der Offenbarung seines Denkens nicht alles offenbart, was uns interessiert, sondern die Dinge, die wir, weil er das so will, wissen sollen.

Es ist die Größe des Menschen als Geschöpf, dass er sowohl seine eigene Schwäche erkennen als auch einen Ausweg formulieren kann. Wo ich weiß, dass ich nichts weiß, weiß ich gleichzeitig, dass es einen gibt, dessen Einsicht ich studieren kann, um so – ohne selbst Gott zu sein – aus Gottes Perspektive mein Leben zu verstehen.

Hast du schon verstanden, wie begrenzt dein eigener Verstand ist? Wie wenig du dich selbst und noch weniger diese Welt verstehst?

Hast du schon angefangen, alle menschlichen Erklärungsmodelle für das Leben und das Zusammenleben der Menschen zu verwerfen und ganz Gott zu vertrauen?

Welche Gebote Gottes hältst du für falsch und machst dich selbst damit zum Narren?



1)
Oder: Mann
2)
Oder: Verstehe ich.
3)
Um 400 v.Chr.
4)
Im Parallelismus stehen Weisheit und Einsicht des Allerhöchsten gegenüber!
5)
Entweder macht der Mensch sich zu Gott und denkt, alles zu wissen, oder er gibt zu, dass er gar nichts weiß. „Either man must then know everything or he knows nothing. This is the dilemma that confronts every form of non-Christian epistemology.“ Van Till in A Christian Theory of Knowledge (1969, S. 17).