8,14 Enteile, mein Geliebter, und sei gleich einer Gazelle oder einem jungen Hirsch auf den duftenden Bergen!

Und nun zur Preisfrage: Warum schließt das Hohelied mit diesem Vers? Warum möchte Salomo von Sulamith hören: „Hau ab!“? Das Motiv stammt aus Hohelied 2,17. Es ist der Abschiedsgruß der Geliebten an ihren jungen Hirsch. So redete Sulamith in der Verlobungszeit, vor der Hochzeit, um ihn wegzuschicken. Warum will er das hören und nicht ein „ich liebe dich“?
Für mich gibt es im Moment nur eine Antwort auf diese Frage. Er will für alle Zeit in ihren Augen der jugendliche Liebhaber sein, als den sie ihn kennengelernt hat. Er will nicht geliebt werden, weil er ihr ein schönes Zuhause verschafft hat oder ihr Sicherheit und Prestige gibt, sondern er will um seiner selbst willen geliebt werden, mit der ursprünglichen Liebe, die sie für ihn hatte, lange bevor sie als Frau des Königs in die Welt der Reichen, Vornehmen und Angesehenen eingeführt wurde1).
Als Sulamith Salomo in der Verlobungszeit wegschickt, übernimmt sie Verantwortung für die Beziehung. Sie macht klar, dass sie nicht nur die Gespielin des Königs, sondern gleichwertige Partnerin sein will. Er ist für sie nicht das Tor zur High Society oder ein Mittel, um den drückenden Alltagspflichten und den unsensiblen Brüdern zu entfliehen. Sie liebt ihn als Person und deshalb ist sie bereit, auch unangenehme Pflichten in der Beziehung zu übernehmen (niemand schickt seinen Liebhaber gern weg). Und von diesem Ausdruck echter, erster Liebe ist Salomo so begeistert, dass er ihn immer wieder hören möchte. Natürlich möchte er als Ehemann nicht mehr weggeschickt werden, aber er wünscht sich, dass sie ihm ein echtes Gegenüber ist, das vor Gott volle Verantwortung für die Entwicklung der Ehe übernimmt.
Am Ende des Hohelieds stehen wir vor der eigentlichen Herausforderung in jeder Zweierschaft. Mitten im Alltag, umgeben von Routine und Freunden, gilt es, den Klang der jungen Liebe in Erinnerung zu rufen und diese Leidenschaft, die zur Verantwortung bereit ist, zur Grundlage und zum Prinzip für alle folgenden Jahre zu machen. Es genügt nicht, sentimental darüber zu jammern, dass früher alles besser war, wenn wir uns nicht jeden Tag dafür entscheiden, die radikale Verliebtheit und die uneingeschränkte Zuneigung der ersten Liebe zu bewahren.
Wenn es mir gelingt, so grenzenlos begeistert von meiner Frau zu bleiben, wie ich es am 31.12.1983 war, als ich sie das erste Mal auf der Silvesterparty eines Freundes sah (bei mir war es Liebe auf den ersten Blick), dann habe ich kein Problem damit, unsere Ehe mit Leidenschaft und Tiefgang zu leben. Damals war dieser „blonde Engel“ für mich zugleich Wunder und „Gebetserhörung“ (ich war noch kein Christ, aber immer schon ein bisschen religiös). Die Wochen und Monate danach waren von schwülstigem Herz-Schmerz, verrückten Ideen und intensiver Träumerei geprägt. Mein Leben begann sich um dieses eine Mädchen zu drehen. Ich war verliebt.
Heute, Jahrzehnte später, möchte ich mit derselben Qualität von Liebe2) an „meinem Mädchen“ (vgl. Sprüche 30,19) hängen. Ich habe Angst davor, dass Routine, Selbstverständlichkeit und mangelnde Konsequenz im Umgang mit „kleinen Füchsen“ meine Ehe von dieser ersten Liebe wegführen. Und ich möchte ehrlich zugeben, dass ich vor dem Studium des Hohelieds nicht einmal den Anspruch hatte, eine solch leidenschaftlich-emotional geprägte Beziehung zu führen. Aber mit diesen wenigen Seiten in der Bibel stellt Gott mir sein Ehe-Ideal vor Augen und ich will – wie in den anderen Dingen des Lebens – klug genug sein, um ihm zu folgen. Ich bin gespannt, wo mich diese Reise hinführt. Ich habe den „Crashkurs Leidenschaft“ tatsächlich zuerst für mich selbst geschrieben, weil ich „egoistisch“ genug bin, um den Segen Gottes in meinem Leben erfahren zu wollen. Und ich wünsche allen Lesern dasselbe. AMEN!

1)
Wir kennen den Gedanken der ersten Liebe aus dem Neuen Testament. Jesus spricht im Sendschreiben an die Gemeinde in Ephesus davon. Dort wirft er der Gemeinde vor, dass sie „die erste Liebe verlassen“ hat (Offenbarung 2,4). Obwohl es in Ephesus geistliches Unterscheidungsvermögen, Ausharren, Hingabe und Opferbereitschaft gab (Offenbarung 2,2-3), war das nicht genug. Jesus sehnt sich danach, bei ihnen die „erste Liebe“ zu sehen.
2)
Die Qualität bleibt dieselbe, auch wenn die Ausdrucksformen sich ändern und ein bisschen Verstand und Reife an die Seite der Schwärmerei treten.