Sprüche 6,22

Sprüche 6,22
Wenn du einhergehst, wird sie1) dich leiten; wenn du dich niederlegst, wird sie über dich wachen; und erwachst du, so wird sie mit dir reden.

Der Sohn braucht auf seinem Weg durch die Welt der Versuchung Frau Weisheit, um ihn zu leiten, über ihm zu wachen und mit ihm zu reden. Rund um die Uhr will sie an seiner Seite bleiben, wenn er einhergeht, sich niederlegt und erwacht. Weisheit steht für das Set aus festen Überzeugungen, die mein Gewissen befruchten, mir dabei helfen gute Lebensentscheidungen zu fällen und die mich in einen inneren Dialog über die Entwicklung meines Lebens führen. Weisheit will, dass ich als Persönlichkeit reife. Jede Lebenssituation wirft ein eigenes Licht auf die Anwendung der ethischen Regeln, die ich von meinen Eltern gelernt habe. Und in der Auseinandersetzung mit diesen unterschiedlichen Blickwinkeln, im Nachdenken über fremde Schicksale, die ich erlebe, im Erleben und Reflektieren der Ergebnisse meiner eigenen Lebensentscheidungen und im intellektuellen Durchdringen der Bibel an sich, werde ich zu einem „weisen, alten Mann“ bzw. zu einer „weisen, alten Frau“. Mein Eindruck ist, dass diese Aufgabe heute vielfach vernachlässigt wird. Unter dem Diktat des Zeitdrucks bleibt kaum mehr Luft, um geistliche Themen zu reflektieren. Und denkt man noch über die Bibel nach, sind es leider selten die ethischen Themen, die durchdacht werden, sondern es geht um weniger wichtige Lehrfragen, von denen man meint, dass sie wichtig wären. Im Endeffekt produzieren wir geistlich unreife Gläubige, die sich auf hohem Niveau über Fragen wie Anbetungsstile, Vorherbestimmung oder Musikrichtungen unterhalten (besser: streiten) können, aber wenig Weisheit besitzen, um ihr eigenes Leben besonnen (vgl. Titus 2,2.3) zu meistern, geschweige denn auf hohem Niveau zu lieben. Machen wir uns nichts vor: Wo das eigene, geistliche Leben unweise geführt wird, bleiben wichtige Elemente des Lebens wie Ruhe, Planung, Erkenntnis, Disziplin, Sexualität, Ermutigung, Genuss oder Geduld2) auf der Strecke. An ihre Stelle setzen sich leider oft: Besserwisserei, eigenwillige Askese3), Mystizismus, „Machtspielchen“, Überforderung oder Heuchelei.


1)
Feminin Singular, weil hier die Weisheit als Person im Blick ist, die hinter der elterlichen Belehrung steht.
2)
Hier als Frucht von Selbsterkenntnis gedacht, die demütig macht und uns über die Fehler von anderen hinwegsehen lässt (vgl. Sprüche 19,11).
3)
S. dazu auch den Exkurs: Wein und Genussmittel