EXKURS: Verspricht Salomo zu viel?

Stehen diese Verheißungen nicht in einem krassen Widerspruch zu Salomos eigenen Worten in Prediger 9,2: „Ein Geschick ist für den Gerechten und für den Ungerechten <bestimmt>, für den Guten und den Reinen und den Unreinen und für den, der opfert, und den, der nicht opfert; wie der Gute so der Sünder, der, der schwört, wie der, der den Eid scheut.“? Muss Hiob, der Redliche (Hiob 1,8), nicht erleben, wie er trotz seiner Liebe zu Gottes Geboten in furchtbare Bedrängnis und Not gerät? Wie passt diese Realität zu den Verheißungen Gottes?
Drei Punkte gilt es bei der Antwort zu beachten: (1) Das Leben gibt Salomo recht, (2) Salomo sieht sehr wohl die kurzfristigen Vorteile eines sündhaften Lebensstils, aber (3) sein Blick reicht über diese Welt hinaus in die Ewigkeit.
Zum einen können wir festhalten, dass sich die Aussagen aus den Sprüchen Salomos wenigstens teilweise mit unserer Erfahrung decken: Der Nüchterne, nicht der Trinker, der Langmütige, nicht der Hitzkopf, und der Treue, nicht der Lässige, werden üblicherweise glücklich, wohlhabend und bleiben gesund. In einer von Sünde und Nichtigkeit geprägten Welt, kann sich der Wert einer weisen Entscheidung nicht immer bereits in der Gegenwart beweisen, aber deshalb bleibt das Prinzip doch wahr. Nur weil die Raupe, die vom Ast fällt, noch im Fallen von einer Amsel gefressen wird, und nicht auf den Boden plumpst, ist das Gesetz der Erdanziehung nicht außer Kraft gesetzt. Es gilt weiterhin und so tun es die moralischen „Naturgesetze“, die uns Salomo präsentiert.
Zum anderen gilt: Eine Reihe der „besser-als“-Sprüche zeigen, dass es den Bösen mindestens für eine Zeit besser geht als den Guten. Wenn Salomo schreibt „besser wenig mit Gerechtigkeit, als viel Einkommen mit Unrecht“ (Sprüche 16,8), dann weiß er darum, dass der Verbrecher materiell oft vorteilhafter dasteht als der Gläubige. Es ist also nötig, die Gesamtheit der Sprüche zu betrachten, um Weisheit zu verstehen, und es reicht nicht, nur ein paar Verse auswendig zu lernen, die sich besonders verheißungsvoll anhören1). Von daher hat das Buch „Prediger“ mit seiner irdisch-diesseitig eingeschränkten Sicht auf die Gegenwart natürlich Recht. Objektiv ist das Einkommen von Gläubigen nicht höher als das von Ungläubigen. Schwarzarbeit und Steuertricks werden sich bis zum Jüngsten Gericht auszahlen.
Dann allerdings nicht mehr und genau diesen Fokus hat Salomo mit „Die Sprüche“ eingenommen. Was zahlt sich auf lange Sicht aus? Wer steht zuletzt als Sieger da? Oder mit Sprüche 23,18 gefragt: Wessen Hoffnung wird am Ende überleben und sich als wahr herausstellen? Deshalb heißt es in Sprüche 24,16: „Denn der Gerechte fällt sieben Mal2) und steht wieder auf.“ Während die Bücher Hiob und Prediger das Leiden des Gerechten vor dem letzten Aufstehen im Blick haben, reicht der Horizont von den Sprüchen bis in die Ewigkeit, wenn nur noch die Gerechten „übrig bleiben“ (Sprüche 2,21.22). Aber diesen Weitblick hat nur der Gläubige, der Gott mehr vertraut, als seiner eigenen Klugheit (Sprüche 3,5).
Häufig wird argumentiert: Das ist das Alte Testament mit seinen irdischen Hoffnungen, aber wir Christen erwarten auf der Erde keinen materiellen Segen, wir bekommen „geistliche Segnungen“ (vgl. Epheser 1,3)! Ich glaube das nicht! Salomo bringt in „Die Sprüche“ ewige Wahrheiten auf den Punkt. Weisheit als solche ist nicht an die Zeit, nicht an verschiedene Bünde oder an Kulturen gebunden, weil sie Gottes unwandelbarem Wesen entspricht. Als Teil von Gottes Wort sind Salomos Gedanken „nützlich zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit“ (2Timotheus 3,16). Es verblüfft deshalb nicht, dass die Apostel „Die Sprüche“ verwenden3), um der Gemeinde vor Augen zu führen, was es heißt ein gottgefälliges Leben zu führen. Der Schreiber des Hebräerbriefes geht so weit, dass er die Lektion aus Sprüche 3,12.13 auf die Gemeinde bezieht. Wie der Vater zum Sohn spricht, so spricht Gott zur Gemeinde (vgl. Hebräer 12,5.6). Wir haben als Gläubige nicht nur an den ewigen Segnungen Gottes Anteil, sondern auch an seinen irdischen Geschenken. Verspricht Salomo zu viel? Nein, überhaupt nicht! Wer seine ewige Perspektive einnimmt, wird feststellen, dass er in allen Belangen Recht behalten wird. Was diese Welt an ewigem Segen bereithält, werden die ernten, die Gott ganz vertrauen.


Wie denkst du über den zeitlichen Wert von Weisheit? Glaubst du daran, dass Gott dich schon in diesem Leben beschenken will?


1)
Dieser Grundsatz von den unterschiedlichen Perspektiven, aus denen ein biblisches Thema betrachtet werden will, gilt übrigens für ganz viele Fälle! Selten ist ein Vers für ein Thema auch nur annähernd „allumfassend“ (vgl. Sprüche 26,4.5)! Gerade in seelsorgerlichen Fragen braucht man oft verschiedenste, über die Bibel verstreute Blickwinkel, um ein Problem hinreichend erläutern zu können. Pharisäertum beginnt im Gegensatz dazu häufig damit, dass ein Vers aus dem Kontext herausgerissen und verabsolutiert wird.
2)
Die Zahl „sieben“ steht für Vollständigkeit. Der Gläubige wird k.o. geschlagen (vgl. Psalm 34,20), aber Gott selbst sorgt dafür, dass er wieder aufsteht - sei es in diesem Leben oder, wie bei den christlichen Märtyrern, im kommenden.
3)
Sie werden wörtlich zitiert und/oder inhaltlich angewandt (vgl. Sprüche 26,11 und 2Petrus 2,22; Sprüche 25,21.22 und Römer 12,20).