Die Sprüche betrachten Frauen durchgängig mit den Augen eines Mannes. An keiner Stelle finden wir eine Beschreibung des Mannes aus dem Blickwinkel einer Frau. Wird das Kind angesprochen, dann spricht der Vater zum Sohn, aber nie zur Tochter (Sprüche 1,8.10.15 u.v.m.). Der Sohn wird lang und breit vor der unzüchtigen Frau gewarnt (Sprüche 5 und 7), aber nie findet sich eine Warnung vor dem untreuen Ehemann. In Sprüche 8 spricht die Weisheit zu den Männern im Tor (Sprüche 8,3.4), aber nicht zu den Frauen auf dem Markt. Der Sohn wird aufgefordert, eine tüchtige und einsichtsvolle Frau zu heiraten (Sprüche 12,4; 19,14) und sich vor der zänkischen in Acht zu nehmen (Sprüche 19,13 u.v.m.), aber an keiner Stelle wird ein guter, geschweige denn ein schlechter Ehemann auch nur erwähnt.
Obwohl der Fokus von den Sprüchen auf dem Mann liegt, ist die Mutter aber wie selbstverständlich an der Erziehung und auch an der Belehrung beteiligt (Sprüche 1,8; 6,20). Die tüchtige Frau öffnet ihren Mund mit Weisheit (Sprüche 31,26), weil Gottes Ideal einer Frau nicht das niedliche Dummchen ist, sondern die kompetente, kluge Managerin, auf die ihr Mann stolz ist!
Ich glaube, der Sohn wird angesprochen, weil sich einerseits die Sprüche literarisch in der Tradition der antiken Weisheitsliteratur bewegen – und die diente zur Erziehung von zukünftigen Königen – und andererseits auf dem Mann die Verantwortung für die Familie ruht, obwohl er mehr in der Gefahr steht, die Verantwortung für Ehefrau und Kinder zu vernachlässigen bzw. durch eigene Dummheit zu gefährden als es die Frau tut. Viel zu viele Frauen übernehmen auch heute an Stellen Verantwortung, an denen Männer versagen. Und sie tun es, weil es ihrer Natur entspricht, sich um Andere zu kümmern.
Das Buch „Die Sprüche“ kann es sich erlauben, aus einer männlichen Perspektive auf das Leben zu blicken, weil sich die Prinzipien hinter den Versen in den meisten Fällen auf beide Geschlechter anwenden lassen. Wie in der Gesetzgebung findet sich auch in der Weisheitsliteratur das Prinzip der Kasuistik. Gott formuliert Gebote selten in Form von apodiktischen (allgemein gültigen) Normen wie „Du sollst nicht ehebrechen“, sondern viel häufiger in Form von Beispielen. Der Leser muss aus dem Einzelfall, dem Kasus, das dahinter stehende Prinzip ableiten und passend auf andere Fälle des Lebens übertragen1). In diesem Sinn sind beinahe alle Sprüche Salomos, die an den Sohn gerichtet sind, auch für die Tochter verbindlich. Dasselbe gilt anders herum. Wo eine Frau negativ dargestellt wird, z.B. als Hure oder zänkisches Weib, sind die Verhaltensweisen, z.B. Verführung des anderen Geschlechts zur Unzucht oder das Verbreiten von Klatsch und Tratsch auch für den Mann verboten. Das ist Kasuistik: Fall lesen - Prinzip identifizieren – Prinzip sinnvoll auf das eigene Leben anwenden.
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Daniel
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