1,5 Wacht auf, ihr Betrunkenen, und weint! Heult, ihr Weinsäufer alle, über den süßen Wein1), denn er ist weggerissen von eurem Mund! 1,6 Denn eine Nation ist über mein Land heraufgezogen2), mächtig und ohne Zahl; ihre Zähne sind Löwenzähne, und sie hat das Gebiss einer Löwin. 1,7 Sie hat meinen Weinstock zu einer Wüste gemacht und meinen Feigenbaum3) zerknickt; sie hat ihn völlig abgeschält und hingeworfen, seine Ranken sind weiß geworden.

Nach der schockierenden Darstellung der Katastrophe beschreibt Joel die Auswirkungen der Heuschreckenplage für „Alkoholiker“ (Joel 1,5-7), für die Bewohner Jerusalems (Joel 1,8-10) und für die Bauern (Joel 1,11.12)4).
Mit einer ordentlichen Portion Ironie wendet sich Joel einer Gruppe von Bürgern zu, die sich normalerweise wenig um das kümmern, was um sie herum geschieht, den Betrunkenen. Nicht einmal an ihnen geht diese Katastrophe spurlos vorbei. Joel ruft ihnen zu wacht auf und heult, weil er möchte, dass sie der Realität ins Auge sehen, sich ihrer Not bewusst werden und sich Gott zuwenden (Joel 2,12.13). Wenn Joel eine nationale Bußbewegung starten will, darf er die Weinsäufer nicht vergessen. Wenn Gott den Menschen mit „Wein, der des Menschen Herz erfreut“ (Psalm 104,15) segnet, dann ist ein Mangel an Wein ein deutlicher Ausdruck göttlichen Missfallens. Die Hoffnung auf süßen Wein ist dahin, weil die Heuschrecken den Weinstock zu einer Wüste gemacht haben. Die Heuschreckenarmee hat zwei Spezifika: Ihre „Krieger“ sind ohne Zahl5) und sie besitzen eine unglaubliche Zerstörungskraft6). Wie das Gebiss einer Löwin alles zermalmt, so verwandelt ein Heuschreckenschwarm blühende Gärten und Felder in eine Wüste. Alles bis hin zu kleinen Bäumen wurde vollständig verzehrt, mindestens jedoch abgeschält und hingeworfen.
Joel redet im Auftrag Gottes, der hier von mein Land […] meinen Weinstock […] meinen Feigenbaum spricht, weil das Land dem Volk Israel nur anvertraut ist. Das Volk ist Verwalter, aber Gott ist der Besitzer.


1)
oder: Most, aber „Most“ ist nach unserem Sprachempfinden unvergorener, d.h. alkoholfreier Traubensaft, während der biblische Begriff sehr wohl ein alkoholhaltiges Getränk beschreibt (Jesaja 49,26) - den jungen, süßen Wein der ersten Pressung.
2)
Ein militärischer Begriff (Richter 6,3; 1Könige 14,25).
3)
Feigenbäume wuchsen oft in Weinbergen (Lukas 13,6) und werden im Alten Testament als Bild für Frieden und Wohlstand gern zusammen erwähnt (1Könige 5,5; Micha 4,4: „Und sie werden sitzen, jeder unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum und niemand wird sie aufschrecken.“).
4)
Chiasmus: Älteste - Weinsäufer - alle - Priester - Bauern. Älteste und Weinsäufer stehen für alle Gesellschaftsschichten (von oben bis unten), während Priester und Bauern für die geistliche und materielle Versorgung der Gesellschaft verantwortlich sind.
5)
Heuschrecken als Bild für Massenhaftigkeit finden sich auch: Richter 6,5 (Einfall der Midianiter); Richter 7,12 (Einfall der Midianiter und Amalekiter); Jeremia 46,23 (Feinde Ägyptens); Jeremia 51,14 (Größe Babylons).
6)
Die Römer nannten Heuschrecken: Die Verbrenner des Landes, weil das Land nach ihrem Abfraß so kahl aussah. Sobald die Heuschrecken Flügel entwickeln, nutzen sie den Wind. In einer Höhe von 80-100 Metern verdunkeln die Schwärme die Sonne. Die Hofbeamten des Pharao kannten die Gefahr: 2Mose 10,4.7b „Erkennst du denn noch nicht, dass Ägypten verloren ist?“