Fragen zum Thema: Auslegung Hohelied

Müssen Christen wirklich ein leidenschaftliches Eheleben entwickeln? Reicht es nicht, dass man den Alltag mit den Kindern gut meistert? Ist der Anspruch nicht zu hoch und für viele Christen einfach nur noch ein Gebot oben drauf, das sie nicht halten können und das ihnen ein schlechtes Gewissen macht?

Unser Leben ist übervoll - keine Frage. Und Christen stecken mittendrin. Ich will mich nicht zum Richter von Menschen aufschwingen und ihnen vermitteln, dass ihr Leben „nicht richtig“ sei. Das Argument „du verlangst zu viel“ ist mir bekannt. Und ich weiß bis heute nicht, wie ich darauf antworten soll.
Einerseits sehe ich Christen, die einfache Prinzipien des geistlichen Überlebens wie das Abgeben von Sorgen im Gebet, das Halten eines Ruhetags oder das Singen von geistlichen Liedern1) ignorieren, ihr Leben unnötig vollstopfen, weil sie „gute Christen, Eltern, Angestellte usw.“ sein wollen, und dann feststellen, dass sie vor lauter Leistung den Spaß am Leben verlieren. Hier vollbringt das Hohelied meines Erachtens Großartiges, weil es den Genuss betont und auf offensichtliche Defizite hinweist. Wer aufgrund des selbst gewählten Lebensstils überlastet ist und Romantik nur als weiteren Anspruch an sein Leben wahrnimmt, braucht dringend Hilfe von geistlich reifen Christen mit Lebenserfahrung.
Es gibt auch Christen in Krisensituationen, die ganz real überlastet sind. Das sollte kein Dauerzustand sein, aber es kommt vor. Wenn mein Kind bei einem Verkehrsunfall stirbt, ist ein Mangel an Romantik in der Ehe kein Thema, das ich angehen würde. Dann gilt es, den Verlust zu verarbeiten und das Weiterleben zu meistern.
Und es gibt eine dritte Gruppe: die Verletzten. Hier sehe ich Christen vor mir, die sich aufgrund von emotionalem oder sexuellem Missbrauch zu einem Beziehungsstil entschlossen haben, in dem Distanz eine wichtige Rolle spielt. Ihr (oft unausgesprochenes) Lebensmotto lautet: „Mir tut niemand mehr richtig weh!“
Erschreckenderweise kann Fürsorge ein Mittel sein, um einen Ehepartner auf Distanz zu halten. Dan B. Allender beschreibt solche Menschen (er bezieht sich auf Frauen) in seinem Buch „Das verwundete Herz“ als „brave Mädchen“. Ein „braves Mädchen“ kontrolliert die Umgebung durch aufopferungsvolle Hilfe, nimmt wenig Rücksicht auf sich selbst, aber bleibt dabei seltsam leblos. Das brave Mädchen verschenkt Zeit und Kraft, aber nie sein Herz. Und deshalb erschrickt das brave Mädchen vor dem Hohelied, denn sowohl Salomo wie auch Sulamith verschenken mehr als Zeit und Kraft, sie verschenken sich selbst, rückhaltlos und ganz. Sie wollen Nähe, um jeden Preis.
Diese Forderung nach Verschmelzung und Genuss durch intimes Miteinander raubt dem braven Mädchen jede Sicherheit. Ihm würde es reichen, den Alltag mit den Kindern gut zu meistern, das Kochen, Putzen und Aufräumen zu erledigen, einkaufen zu gehen, Geld zu verdienen oder den tropfenden Wasserhahn zu reparieren. Das sind seine Mittel, um Liebe zu zeigen und „Nähe“ zu geben.
Aber diese „Liebe“ ist eine Lüge! Gottes Vorstellung von Liebe zwischen Mann und Frau findet sich im Hohelied. Wer dazu nicht bereit ist, braucht Hilfe. Wer dazu kein Ja findet, braucht Jesus, den Arzt2). Liebevolle Zweisamkeit zu verstehen und zu leben ist kein Vorrecht von Superchristen, sondern Gottes Angebot an alle, die seine Qualität von Liebe lernen wollen. Und der Mann, der hier schreibt, weiß leider zu genau, wovon er schreibt!

Ist deine Auslegung nicht reichlich einseitig?

Die Auslegung eines Buches ist immer einseitig, weil kein Buch der Bibel „alle Seiten“ des Lebens gleichzeitig beleuchtet. Ich erwarte von der Offenbarung keine Tipps für meine Ehe und vom Propheten Hosea keine Einsichten in Kindererziehung. Jedes Buch hat seine eigene Schreibabsicht und gehört einem bestimmten Literaturtyp an, der es für die Vermittlung bestimmter Inhalte besonders brauchbar macht.
Dass das Hohelied Themen wie Romantik und Leidenschaft vermittelt, passt sowohl zur Schreibabsicht als auch zum Literaturtyp „Lied“. Ausgehend von der „Einseitigkeit“ des Inhalts wird auch die Auslegung „unausgewogen“. Sie muss es sein, wenn sie nicht von subjektiven Vorurteilen, sondern vom Text geleitet wird. Und der Text des Hohelieds tendiert dazu, Ehe aus einer bestimmten Perspektive zu betrachten, in der andere wichtige Elemente wie zum Beispiel gemeinsames Gebet, Finanzplanung, der Umgang mit den Schwiegereltern, Kindererziehung oder Evangelisation unerwähnt bleiben.

Ist deine Auslegung nicht völlig von deinen eigenen Erfahrungen und Eheproblemen geprägt?

Ich würde gern schreiben, dass mein Leben keinerlei Auswirkungen auf meine Auslegung hat, aber das wäre Anmaßung und Quatsch. Mir sind folgende vier Punkte in diesem Zusammenhang wichtig:

  1. Ich bin nicht an das Studium des Hohelieds herangegangen, um eine bestimmte Sicht von Ehe zu finden. Ich war im Moment des Bibelstudiums, bei dem ich mir jeden einzelnen Vers vom hebräischen Grundtext her erarbeitet habe, nicht daran interessiert, eine bestimmte theologische Position zu verteidigen. Mich hat selbst überrascht, wie deutlich das Hohelied in die heutige Zeit hineinspricht. Von einigen Passagen bin ich förmlich „kalt erwischt“ worden.
  2. Wenn der Vorwurf hinsichtlich einer Prägung durch mein Leben stimmt, dann nicht bei der Auslegung, sondern bei der Anwendung. Die Auslegung - auch von Bildern - findet nicht freischwebend im „luftleeren Raum“ statt, sondern folgt bestimmten hermeneutischen Regeln. Von daher spielt mein Leben bei der Auslegung eine untergeordnete Rolle. Die Anwendung von Versen, die Beispiele und natürlich die Fragen sind in erheblichem Maß durch mein Leben geprägt.
  3. Wo ich mit meiner Auslegung übers Ziel hinausgeschossen bin, möchte ich für andere Meinungen offen bleiben. Diese Auslegung des Hohelieds ist auch in meinen Augen nicht das letzte Wort. Sie soll eine Anregung sein, um über Gottes Gedanken zu Leidenschaft und Romantik nachzudenken - mehr nicht. Es gibt viel begabtere Bibellehrer als mich. Diese mögen den Schlusspunkt zur Erklärung des Hohelieds setzen; ich will nur im Rahmen meiner Gaben und meiner Berufung das Wort Gottes ernst nehmen und ein paar glückliche Ehen auf den Weg bringen.
  4. Ich trete als Bibellehrer bei der Erklärung der Verse betont selbstsicher auf und verstehe mich eher als Prediger, nicht so sehr als Ausleger, weil ich mit dem „Crashkurs Leidenschaft“ keinen wissenschaftlichen Kommentar schreiben wollte (was ich vermutlich auch von meiner geistlichen Begabung her nicht könnte). Durch die Betonung auf die Praxis mag der Eindruck entstehen, ich hätte den Grundtext sehr frei in meinem Sinn interpretiert, was aber nicht stimmt.
1)
Philipper 4,6-7; 2Mose 20,10-11; Kolosser 3,16
2)
Ein Predigttipp: Mut zur Liebe