Die Struktur

Strukturen sind wichtig, weil sie uns zeigen, wie der Autor sich den Schwerpunkt seines Werkes gedacht hat. Während wir es heute gewohnt sind, den Showdown eines Werkes ans Ende zu legen, findet sich in antiken Texten die spannendste Aussage häufig in der Mitte und wird von einander ergänzenden, sich gegenseitig stützenden, parallelen Erzähleinheiten umrahmt. Man nennt eine solche Struktur: Chiasmus
Das Buch Habakuk ist chiastisch aufgebaut.


Der Chiasmus

Titel (Habakuk 1,1)
Block 1a: Habakuks Frage: Wie lange noch? (Habakuk 1,2-4)
Block 2a: Gottes Werk – die Babylonier, eine unbesiegbare Militärmacht im Auftrag Gottes (Habakuk 1,5-11)
Block 3a: Habakuk hinterfragt Gottes Sinn für Gerechtigkeit (Habakuk 1,12-17)
Höhepunkt: Glauben ist Leben (Habakuk 2,1-5)
Block 3b: Wehe-Rufe gegen Babylon bestätigen Gottes Gerechtigkeit (Habakuk 2,6-20)
Block 2b: Gottes Werk – die himmlische Rettung seines Volkes aus der Hand der Babylonier (Habakuk 3,1-15)
Block 1b: Habakuks Reaktion: Jubel trotz Gericht (Habakuk 3,16-19)


Die Blöcke 1a und 1b (Habakuk 1,2-4; 3,16-19)
Habakuk beginnt sein Werk mit einer Reihe von grundsätzlichen Klagen. Im Land herrscht Unrecht und der Prophet fragt: „Wie lange, HERR,… Warum… ?“ Er kann nicht verstehen, dass sein Gott ihn nicht hört und sich so „Verwüstung“, „Gewalttat“, „Streit“, „Hader“ und Rechtsbeugung immer mehr ausbreiten.
Dieser Eröffnung aus Klagen steht eine abschließende Reaktion aus Habakuks eigenem Mund gegenüber: „Ich vernahm es… ich muss ruhig warten… ich aber, im HERRN will ich frohlocken, will jubeln … Der HERR, der Herr, ist meine Kraft.“ Offensichtlich ist es Gott gelungen, die Klagen des Propheten zu beschwichtigen.
Die beiden Blöcke skizzieren Anfangs- und Endpunkt der geistlichen Reise, die Habakuk durchmacht. Fragt er anfänglich: „Gewalttat! und du rettest nicht?“, bezeichnet er in Habakuk 3,18 den HERRN als „Gott meiner Rettung.“ Beginnt das Buch mit einer doppelten Anklage („… habe ich gerufen, und du hörst nicht“! Ich schreie … und du rettest nicht“), endet es mit doppelter Freude („frohlocken … jubeln“).
Die beiden Blöcke teilen stilistisch die Perspektive der ersten Person (ich, mich, meine). Diese Perspektive ist im Rest des Buches stark zurück genommen und findet sich nur noch in Ansätzen zu Beginn des Höhepunktes und am Anfang des Psalms. Anfang und Ende des Buches beleuchten also wie Habakuk denkt, welche Fragen ihn umtreiben und wie er sich fühlt.

Die Blöcke 2a und 2b (Habakuk 1,5-11; 3,1-15)
Gottes erste Antwort auf Habakuks Klage (Block 2a) besteht in einer erschreckenden Vision. Gott würde die Chaldäer zur Weltmacht machen, eine „grimmige und ungestüme“ Nation, sie wird die „ Breiten der Erde“ durchziehen, um „Wohnungen in Besitz nehmen, die ihr nicht gehören“. Ihre Pferde sind „schneller als Leoparden“ und „rascher als Abendwölfe“. „Das Streben ihrer Angesichter ist vorwärts gerichtet, und Gefangene rafft es zusammen wie Sand.“ Sie spottet über „Könige“ und nimmt „jede Festung“ ein. Gott beschreibt eine furchtbare, nicht zu stoppende Militärmacht – die Babylonier.
Block 2b beschreibt Gottes Ankunft als Kriegergott, der sein Volk aus der Hand der Babylonier befreit. Und die Sprache ist noch ehrfurchteinflößender und nicht weniger militaristisch als Block 2a. Er „kommt von Teman“ und „seine Pracht bedeckt die Himmel“. Um ihn herum strahlt es und er bringt den Tod durch die „Pest, und ein Brennen kommt aus seinen Füßen“, Nationen erzittern, die Berge bersten, Hügel fallen in sich zusammen. Er kommt mit „Pferden“ und „Wagen“. Gefahr geht aus von seinem „Bogen“ und seinem Speer. Gott schlägt „die Völker“, „durchbohrt“ mit seinen „eigenen Speeren den Anführer“ der Feinde, während sich Sonne und Mond verstecken.
Schaut man die beiden Blöcke genauer an, dann verbindet sie nicht nur die militaristische Sprache, sondern sogar der Gebrauch derselben Worte (vor allem Verben; auffällig: die Pferde). Beide Blöcke beginnen damit, dass Gott ein „Werk“ tut (Habakuk 1,5; 3,2).
Wird die Schlagkraft der Babylonier in Block 2a als unüberwindlich dargestellt, so wird sie doch von Gottes Armee übertroffen. Ihr fallen nicht nur Völker, sondern die ganze Erde, die Völker, die Berge, die Ströme, das Meer, die Sonne, der Mond und natürlich die Babylonier zum Opfer. Die Beschreibung der himmlischen Armee ist dann auch doppelt so lang wie die der Babylonier.

Block 3a und 3b (Habakuk 1,12-17; 2,6-20)
In Block 3a versteht Habakuk nicht, wie Gott die Chaldäer „zum Gericht“ und „zur Züchtigung“ einsetzen kann, wenn dadurch der „Gesetzlose den verschlingt, der gerechter ist als er“ und anfängt sich selbst anzubeten. Habakuk hat ein Problem mit Gottes Sinn für Gerechtigkeit. Einerseits weiß er, dass Gott „zu reine Augen“ hat, „um Böses an zu sehen“ und dass er „Verderben“ nicht anschauen mag, andererseits schaut Gott den räuberischen Horden der Chaldäer zu und schweigt, während die Babylonier „Nationen schonungslos“ hinmorden. Wo bleibt Gottes Reaktion?
Die Serie von Wehe-Rufen in Block 3b ist Gottes Antwort auf Habakuks Fragen. Wenn es im Moment auch ungerecht erscheint, dass die Babylonier ungestraft plündern und „alle Nationen“ an sich raffen, so werden sie doch schlussendlich für alles Böse, das sie tun, selbst bestraft werden. Was sie anderen angetan haben, wird man ihnen antun: Der Räuber wird selbst zur Beute.
Die beiden Blöcke entsprechen sich auf unterschiedliche Weise. Beide beginnen mit einer rhetorischen Frage,drehen sich um die Boshaftigkeit der Babylonier, vor allem um die Grausamkeit, mit der die Chaldäer besiegte Nationen behandelt haben, und thematisieren den Götzendienst der Babylonier.

Der Höhepunkt (Habakuk 2,1-5)
Im Höhepunkt kulminieren die Antworten. Die Klage Habakuks wird direkt von Gott beantwortet. Gott betont dabei zwei Aspekte: Erstens muss der Prophet auf das Gericht warten. Die Sünder werden bestimmt bestraft! (Habakuk 2,3.4) Zweitens ist die Zeit des Gerichts von einem für Habakuk und seine Zeitgenossen viel wichtigeren Prinzip geprägt: „Der Gerechte aber wird durch seinen Glauben leben.“ (Habakuk 2,4). Losgelöst von den Umständen ihrer Zeit, selbst im Angesicht von Gottes Gericht, ist der Gerechte durch seinen Glauben sicher. Sein Leben ist in Gott geborgen, weil er glaubt. Mag auch die Welt, in der er lebt, im Chaos versinken, er selbst bleibt sicher in Gottes Hand.

Ein Resümee
Habakuk will seine Leser eine gedankliche Reise vollziehen lassen, indem er ihnen seinen eigenen Weg aus Konfusion und Verzweiflung hin zu Klarheit und Hoffnung vorstellt. Das Buch Habakuk will ermutigen und vor allem in der Mitte und am Ende zum fröhlichen, weil glaubenden, Warten auf Gott bewegen.
Habakuk ist ein Buch, das jedem Gläubigen inmitten verstörender Lebensumstände Mut machen will, weil es darauf hinweist, dass wir unser Leben nicht im Griff haben (vgl. Prediger 9,11.12), aber uns trotzdem sicher wissen dürfen in Gottes Hand. Gott ist Gott und darf tun, was ihm beliebt – sogar strafen! Solange wir glauben kann sich um uns herum die Welt im Chaos auflösen, aber unser Leben wird in Gott geborgen sein (Kolosser 3,31)).

1)
Das häufig mit „verborgen“ übersetzte Verb kann auch „geborgen“ bedeuten.