Die Frage ist insofern spannend, weil sie uns mit einem Phänomen konfrontiert, das wir auch heute noch kennen. Es ist die mangelnde Exaktheit einer kulturell gelebten Religion zu ihren Quellen. Lukas beschreibt uns, was Stephanus gesagt hat. Und die Tatsache, dass er Ungenauigkeiten und vermeintliche Fehler mit beschreibt, zeigt, wie genau und verlässlich er als Chronist arbeitet. Gleichzeitig ist es aber so, dass in jeder gelebten Religion neben den eigentlichen Quellen immer auch eine Tradition besteht, die für die Gläubigen gleichwertig ist und als Argument herangezogen werden kann.
Ein Beispiel. Würde ich heute jemanden nach Weihnachten fragen und ob da die Heiligen Drei Könige zum Stall gekommen sind, wo der Esel und der Ochse standen, dann würden wohl die meisten Christen in Deutschland sagen: „Ja, genau so war es!“ Und sie würden das so sagen, weil sie von dem an Weihnachten allgegenwärtigen Krippenspiel geprägt wurden. Ihr „Bibelverständnis“ ist abgeleitet von einer Kinderaufführung. Wenn man ihnen dann sagt, dass es nicht drei Könige, sondern eine unbekannte Anzahl von Weisen war, die auch nicht zum Stall, sondern zu einem Haus gekommen sind, und dass von Ochs und Esel nirgends die Rede ist, dann wären sie erstaunt. Und so ist es in jeder Religion. Es gibt neben den Quellen auch noch die Tradition, das was die Kultur aus der Religion macht.
Und genau das findet man bei Stephanus. Aus der Sicht des modernen Bibellesers ist seine Argumentation fehlerhaft. Aus der Sicht seiner Zuhörer so vernünftig, dass man ihn dafür steinigt.
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Hier noch eine Quelle:
https://www.christian-thinktank.com/baduseot.html
Indeed, Stephen's speech in Acts 7 contains several problems, with four of these in verses 2-8 (including the two you mention). But his usage is well within the parameters of acceptableness in the day. So, Longenecker (EBC, in.loc., emphasis mine):
„There are a number of difficulties as to chronological sequence, historical numbers, and the use of biblical quotations in Stephen's address that have led to the most strenuous exercise of ingenuity on the part of commentators in their attempts to reconcile them. Four of these difficulties appear in vv. 2-8. Verse 3 quotes the words of God to Abraham given in Genesis 12:1 and implies by its juxtaposition with v. 2 that this message came to Abraham „while he was still in Mesopotamia, before he lived in Haran,“ whereas the context of Genesis 12:1 suggests that it came to him in Haran. Verse 4 says that he left Haran after the death of his father, whereas the chronological data of Genesis 11:26-12:4 suggests that Terah's death took place after Abraham's departure from Haran. Verse 5 uses the words of Deuteronomy 2:5 as a suitable description of Abraham's situation in Palestine, whereas their OT context relates to God's prohibition to Israel not to dwell in Mount Seir because it had been given to Esau. And v. 6 speaks of 400 years of slavery in Egypt, whereas Exodus 12:40 says 430. „We need not, however, get so disturbed over such things as, on the one hand, to pounce on them to disprove a „high view“ of biblical inspiration or, on the other hand, to attempt to harmonize them so as to support such a view. These matters relate to the conflations and inexactitude of popular Judaism, not necessarily to some then-existing scholastic tradition or to variant textual traditions. In large measure they can be paralleled in other popular writings of the day, whether overtly Hellenistic or simply more nonconformist in the broadest sense of that term. Philo, for example, also explained Abraham's departure from Ur of the Chaldees by reference to Genesis 12:1 (De Abrahamo 62-67), even though he knew that Genesis 12:1-5 is in the context of leaving Haran (cf. De Migratione Abrahami 176). Josephus spoke of Abraham's being seventy-five years old when he left Chaldea (contra Gen 12:4, which says he was seventy-five when he left Haran) and of leaving Chaldea because God bade him go to Canaan, with evident allusion to Genesis 12:1 (cf. Antiq. I, 154 [vii.1]). Likewise, Philo also placed the departure of Abraham from Haran after his father's death (De Migratione Abrahami 177). And undoubtedly the round figure of four hundred years for Israel's slavery in Egypt–a figure that stems from the statement credited to God in Genesis 15:13–was often used in popular expressions of religious piety in Late Judaism, as were also the transpositions of meaningful and usable phrases from one context to another.
And, relative to the burial location, the same phenomena can be seen in the LXX and in the Dead Sea Scrolls (Longenecker again): “…the confusion in v. 16 between Abraham's tomb at Hebron, in the cave of Machpelah, which Abraham bought from Ephron the Hittite (cf. Gen 23:3-20) and wherein Abraham, Isaac, and Jacob were buried (cf. Gen 49:29-33; 50:13), and the burial plot purchased by Jacob at Shechem from the sons of Hamor, wherein Joseph and his descendants were buried (cf. Josh 24:32). Again, these are but further examples of the conflations and inexactitudes of Jewish popular religion, which, it seems, Luke simply recorded from his sources in his attempt to be faithful to what Stephen actually said in his portrayal. And again, they can in large measure be paralleled elsewhere. Genesis 46:27 in the LXX, for example, does not include Jacob and Joseph but does include nine sons of Joseph in the reckoning, thereby arriving at „seventy-five souls“ all together who went down to Egypt. And with this number both Exodus 1:5 (LXX) and 4QExoda at 1:5 agree. So, Stephen's inexactitude seems to fall in line with at least some of the more obvious contemporary Jewish practices, as evidenced by the LXX, Qumran, Josephus and Philo. [Note also: (1) that the Hebrew MS at Qumran called 4QExod(a) gives 75 as the correct number–in agreement with the LXX, over against the Hebrew MT!; and (2) Stephen was a Hellenist and spoke Greek anyway–the LXX would be his choice NOT because he was a „Christian“ but because he was a Hellenistic Jew]
Apg 7,2–4 ↔ Gen 11,31 und 12,1–4
Stephanus (Apg 7,2–3): Gott beruft Abraham schon in Mesopotamien; erst danach zieht er nach Haran. Genesis: Abraham geht mit seinem Vater Terach zunächst nach Haran (Gen 11,31). Die Berufung folgt erst nach Terachs Tod (Gen 12,1–4).
Analyse: Stephanus ordnet die Berufung zeitlich vor den Aufenthalt in Haran. Damit folgt er einer jüdisch-hellenistischen Tradition (u. a. Philo, Jubiläen 12,1-4) statt der Reihenfolge des masoretischen Textes.
Apg 7,6 – 400 Jahre Knechtschaft ↔ Ex 12,40–41
Stephanus (Apg 7,6):
„… man würde sie knechten und misshandeln vierhundert Jahre.“
Biblische Zahlen:
Gen 15,13: 400 Jahre (runde Angabe, umfasst Fremdsein in Kanaan und Ägypten).
Ex 12,40–41 (masoretischer Text): 430 Jahre in Ägypten.
Ex 12,40–41 (Septuaginta / samaritanischer Text): 430 Jahre in Ägypten und Kanaan.
Analyse: Stephanus greift bewusst die 400 Jahre aus Gen 15,13 auf. Diese Zahl war eingängig und deckte das ganze Zeitraum der Unterdrückung ab. Die 430 Jahre in Exodus sind chronologisch genauer, aber für seine Argumentation – das lange Warten auf Erlösung – nicht nötig. Schon Paulus (Gal 3,17) verweist auf 430 Jahre und zeigt, dass im Frühjudentum beide Zahlen koexistierten.
Apg 7,4 – Terachs Tod vor Abrahams Auszug
„… und [Gott] ließ ihn, nachdem sein Vater gestorben war, in dieses Land übersiedeln…“
Zeitangaben in Genesis:
Gen 11,26: Terach war 70 Jahre alt, als er Abraham zeugte.
Gen 11,32: Terach starb mit 205 Jahren.
Gen 12,4: Abraham zog mit 75 Jahren aus Haran weg.
Rechnung nach Gen 11–12: 205 – 70 – 75 = 60 ➜ Terach hätte noch 60 Jahre gelebt, als Abraham schon unterwegs war.
Wie löst Stephanus das?
Traditionslösung: Manche jüdische Ausleger (z. B. Josephus) hielten Abraham nicht für den Erstgeborenen. Wird er später (z. B. mit 130 Jahren Terachs) geboren, stirbt der Vater tatsächlich vor Abrahams Auszug.
Theologische Lösung: Gen 12,1 betont den Bruch: „Geh aus deinem Vaterhaus…“. Stephanus verstärkt diesen Schnitt, indem er Terachs Tod als Schlusspunkt der alten Bindungen nennt.
Fazit: Stephanus glättet die Chronologie, um die völlige Loslösung Abrahams zu unterstreichen und einen klaren heilsgeschichtlichen Neubeginn zu markieren.
Apg 7,20–22 – Mose „schön vor Gott“ und in ägyptischer Weisheit erzogen
„schön vor Gott“ „unterwiesen in aller Weisheit der Ägypter“
Abweichungen zur hebräischen Bibel:
Ex 2,2 beschreibt Mose nur als „ein schönes Kind“.
Vom Besuch einer ägyptischen Schule steht im AT nichts. Diese Vorstellung stammt aus jüdischen Außenseitentraditionen (z. B. Philo, Vita Mosis I 5-8; Josephus, Ant. II 9).
Analyse: Stephanus schließt erzählerische Lücken mit damals verbreiteten jüdischen Überlieferungen. So erhöht er Mose als Vorbild und Vorausbild Christi (Apg 7,37).
Apg 7,14 – 75 Nachkommen Jakobs
Stephanus: „75 Seelen“.
Gen 46,27 (hebräischer Text): „70 Seelen“.
Gen 46,27 (Septuaginta): „75 Seelen“.
Analyse: Stephanus folgt hier bewusst der Septuaginta, die fünf Urenkel Ephraims und Manasses hinzurechnet. Die LXX war damals weithin anerkannte Schrift.
Apg 7,16 – Begräbnis Josefs in Sichem
„… in das Grab gelegt, das Abraham … in Sichem gekauft hatte.“
Sachlage im AT:
Abraham kaufte das Familiengrab in Machpela bei Hebron (Gen 23).
Jakob erwarb Land in Sichem (Gen 33,19).
Josefs Gebeine wurden schließlich in Sichem bestattet (Jos 24,32).
Analyse: Stephanus verschmilzt zwei Käufe (Abraham → Hebron, Jakob → Sichem). Möglich ist:
Midraschische Zusammenführung: Abraham steht symbolisch für das ganze Erbe.
Typologie: Sichem rückt als Ort der Verheißung in den Mittelpunkt.
Apg 7,23–29 – Mose erschlägt den Ägypter
„Er meinte, seine Brüder würden verstehen…“ (Apg 7,25)
Abweichung: Diese innere Motivation findet sich nicht in Ex 2,11-15.
Analyse: Stephanus deutet Moses Tat als ersten, aber missverstandenen Befreiungsversuch – ein Leitmotiv seiner Rede (vgl. Apg 7,35-39).
Apg 7,30–34 – Berufung am Dornbusch
„Ein Engel des Herrn erschien ihm… Zieh deine Sandalen aus…“
Unterschiede: Stephanus lässt den Gottesnamen JHWH aus und spricht nur vom „Engel des Herrn“.
Analyse: „Engel des Herrn“ fungiert als Stellvertreter Gottes (vgl. Gen 16 u. Ex 3). Damit kann Stephanus christologisch deuten: Der Engel als Vorauserscheinung des Logos.
Apg 7,38 – „Lebendige Worte“
„…der lebendige Worte empfing…“
Abweichung: Ex 19-24 spricht von „Geboten“ und „Gesetzen“.
Analyse: Der Ausdruck „lebendige Worte“ betont die Wirkungskraft des Gesetzes (vgl. Hebr 4,12) und fordert die Hörer stärker heraus.
Apg 7,44–47 – Stiftshütte, David und Salomo
„David fand Gnade … Salomo aber baute Gott ein Haus.“
Kurzfassung: Stephanus streicht Details des Tempelplans (2 Sam 7) und legt Gewicht auf Salomo. So bereitet er seine Kritik am starr-rituellen Tempelverständnis vor (Apg 7,48-50; Jes 66,1-2).
Gesamtbeurteilung:
Stephanus erzählt frei, aber texttreu. Er nutzt midraschische Technik: verbindet und verdichtet Erzählungen, setzt typologische Akzente; stützt sich gezielt auf die Septuaginta; verfolgt eine klare theologische Linie: Israel hat wiederholt Gottes Sendungen missachtet – der Höhepunkt ist die Ablehnung Jesu (Apg 7,51-53).
1Mose 2Mose 3Mose 4Mose 5Mose Josua Richter Ruth 1Samuel 2Samuel 1Könige 2Könige 1Chronik 2Chronik Esra Nehemia Esther
Hiob Psalmen Sprüche Prediger Hohelied
Jesaja Jeremia Klagelieder Hesekiel
Daniel
Hosea Joel Amos Obadja Jona Micha NahumHabakuk Zephanja Haggai Sacharja Maleachi