2,4 Siehe, der Stolze, nicht aufrichtig ist in ihm seine Seele. Der Gerechte aber wird durch seinen1) Glauben leben2).

Das siehe leitet die Vision ein. Gott weiß, dass der Stolze nicht aufrichtig ist. Er hält sich für die Quelle alles Guten und Wahren und so gelingt es ihm nicht, Gott zu vertrauen oder ewiges Leben zu finden.
Gerechtigkeit im AT ist ganz eng mit der Idee des Gerichtswesens verbunden. Gott ist Richter, gibt ein Gesetz und schafft von daher einen Standard für Gerechtigkeit, der von den irdischen Richtern aufrecht erhalten werden soll. Das ist gemeint, wenn Jesaja klagt, dass die korrupten Richter „den Gerechten … ihre Gerechtigkeit absprechen.“ (Jesaja 5,23) Sie nehmen den Gerechten nicht ihren gerechten Charakter, sondern verweigern ihnen die Gerechtigkeit in der Gerichtsverhandlung. Die Idee von Rechtsprechung schwingt beim Begriff der Gerechte immer mit und doch ist der Gerechte hier besonders das Gegenstück zum Stolzen, der unaufrichtig ist. Den einen kann Gott nicht gerecht sprechen und den anderen schon, denn sie unterscheiden sich durch ihren Glauben.
Der Text beantwortet dabei eigentlich nicht die Frage, wie ein Mensch gerecht wird, sondern wie der Gerechte (ewiges) Leben findet, nämlich durch seinen Glauben. Während der Ungerechte überhaupt keine Chance auf (ewiges) Leben hat, hat der Gerechte eine Chance, wenn er glaubt. Und sein Glaube hat natürlich Auswirkungen auf seine Gerechtigkeit, wie es von Abraham heißt: „Er glaubte dem HERRN und er rechnete es ihm als Gerechtigkeit an.“ (1Mose 15,6) Der wirklich Gerechte ist in der Bibel immer auch der Gläubige und der Gläubige ist aufgrund seines Glaubens gerecht.
Der mit Glauben übersetzte Begriff hat die Grundbedeutung von Treue, Beharrlichkeit und Wahrhaftigkeit. Gott ist ein „Gott der Treue“ (5Mose 32,4; Psalm 33,4) und deshalb kann man ihm vertrauen. Die schwierige Frage lautet nun: Was ist mit „Glauben“ gemeint? Sind die treuen Werke des Gerechten gemeint? Wohl kaum, denn die Autoren des NT benutzen den Vers aus Habakuk, um den von allen (verdienstlichen) Werken losgelösten Glauben des Sünders zu beschreiben (Römer 1,17), der sich allerdings auch in einem Leben des Glaubens widerspiegelt (Hebräer 10, 37-39; Jakobus 2,14-26). Der Gläubige hängt an Gott, d.h. er vertraut Gott, und diese Einstellung zeigt sich gerade im Umgang mit Schwierigkeiten. Glauben ist nichts, was in der Vergangenheit geschehen ist, sondern echter Glaube bewährt sich in der Gegenwart und prägt ein ganzes Leben. Es geht beim Glauben nicht um das Gefühl des Gläubigseins, sondern um praktisch im Alltag gelebte Loyalität und Treue. Und dabei wird Glauben nie (verdienstliche) Tat, sondern beschreibt die Haltung, die hinter der Tat steht und allem Tun voran geht.
Gott gibt Habakuk Hoffnung. Israel wird eine Zeit der Vernichtung erfahren, aber es gibt Hoffnung für jeden, der sich im Glauben an Gott hängt. Für die Hörer der Prophetie bedeutete Glauben, dass sie bereit sind, das Lied Habakuks (Habakuk 3) zu singen, und das nicht nur zu Hause, sondern auch 1000 Kilometer von Jerusalem entfernt, im Exil, ohne Land und ohne Tempel. Glauben bedeutete 70 Jahre auf die Rückkehr in ein verwüstetes Heimatland zu warten, die Hoffnung nicht aufzugeben und im Angesicht von Vertreibung und Gräueltaten an Gottes Verheißungen festzuhalten.


1)
Die LXX übersetzt hier: „… wird durch meinen (d.h. Gottes) Glauben leben.“
2)
Diese Übersetzung ist grammatikalisch der Alternative „der durch seinen Glauben Gerechte aber wird leben“ vorzuziehen. Vgl. Robertson, S. 177.