2,11b Und wer kann ihn ertragen?

Die Antwort auf diese rhetorische Frage ist selbstverständlich: keiner! Wenn Joels prophetische Interpretation der Gegenwart wahr ist - und die Ungewöhnlichkeit der Ereignisse spricht dafür -, dann kann das Volk mit Sicherheit wissen, dass es ohne Buße verloren ist.
Diese Frage steht sinngleich auch in Offenbarung 6,17: „Denn gekommen ist der große Tag ihres Zorns. Und wer vermag zu bestehen?“ Mit dem brechen des ersten Siegels, dem Auftreten des Antichristen, beginnt m.E. der „Tag des HERRN“ (vgl. 2Thessalonicher 2,3).
Warum erwähnt Joel keine konkreten Sünden1)? Wir lesen nur von der Strafe, aber nicht von den Vorwürfen? Ich denke, dass das Buch Joel im größeren Kontext der Bibel das Thema Buße behandelt und von dem Prinzip aus Römer 3,12 ausgeht: „Alle sind abgewichen, sie sind allesamt untauglich geworden; da ist keiner der Gutes tut, da ist auch nicht einer.“ Wenn es um das Thema Buße geht, dann sitzen alle Menschen im selben Boot. Wenn Teil 1 von Joel die Notwendigkeit einer Errettung durch Buße herausarbeiten will, eine Option, die in Joel 3,5 wie nebenbei auf die ganze Erde ausgedehnt wird, dann braucht es keine konkreten Vorwürfe, weil jeder Mensch von Natur aus2) genug „Werk des Gesetzes“, d.h. richtiges Verhalten, in seinem „Herzen“ (= Denken, Wille, das Innere) trägt, um moralische Urteile zu fällen und sich selbst als Sünder wahrnehmen zu können (Studientipp: Röm 2,1-16 vor allem die Verse 14 und 15). Selbst die übelsten Sünder wissen um ihre Sündhaftigkeit und die Rechtmäßigkeit eines Strafgerichts (Römer 1,32).


1)
Dasselbe Argument kann als Antwort für die Frage, warum Joel zeitlich nicht verortet ist, genommen werden. Wenn Joel Prinzipien rund ums Thema Buße im weitesten Sinn behandelt, dann ist jede zeitliche Einordnung Unsinn, denn dann reden wir von überzeitlichen Prinzipien, die auf jeden Menschen, von Adam angefangen, angewandt werden können. Eine weitere Frage könnte sein, warum Joel nichts von der Reaktion des Volkes schreibt. Joel 2,18ff setzt die Buße einfach voraus, beschreibt sie aber nicht. Auch hier ist die Universalität des Buchthemas eine Lösung: Buße ist ein globales Prinzip, das hier an einem Beispiel „durchgespielt“ wird, das aber zu allen Zeiten „funktioniert“, wenn Menschen von ganzem Herzen Buße tun. Es geht überhaupt nicht um ein Wie der Buße, sondern nur um das Dass.
2)
Unsere Gottesebenbildlichkeit gibt uns auch Anteil an der göttlichen Ethik, die uns naturgemäß nicht völlig fremd ist und uns ermöglicht, moralisch zu handeln. Selbst die übelsten Sünder wissen um ihre Sündhaftigkeit (Römer 1,32).