1,8 Klage wie eine Jungfrau1), die mit Sacktuch umgürtet ist wegen des Mannes ihrer Jugend! 1,9 Speisopfer und Trankopfer sind weggenommen vom Haus des HERRN; es trauern die Priester, die Diener des HERRN. 1,10 Verwüstet ist das Feld, verdorrt der Erdboden; denn verwüstet ist das Korn, vertrocknet der Traubensaft, dahingewelkt das Öl.

Auf den ersten Blick ist nicht klar, wer hier klagen soll. Der Imperativ klage ist feminin Singular und deshalb vermute ich, dass - auch weil das Haus des HERRN im nächsten Vers erwähnt wird - Jerusalem als Stadt angesprochen wird (Siehe Fußnote zu „Jungfrau“)2).
Die Jungfrau, die hier wegen des Mannes ihrer Jugend klagt, ist eine Witwe, deren Mann kurz nach der Verlobung (also noch vor der Heimholung)3) gestorben ist. Wie frustriert muss sich diese Frau fühlen, die sich auf ein Leben mit dem Mann freute, der schon ihr Ehemann war4), und erleben muss, wie alle ihre Träume zerplatzen, weil der Tod ihn aus ihren wartenden Armen reißt? Statt eines Hochzeitskleids zieht sie als Ausdruck ihrer unbändigen Trauer Sacktuch an. Mit diesem Bild illustriert Joel die Qualität der Klage, die er angesichts des realen Desasters echter Buße für angemessen hält.
Für die Bewohner Jerusalems, deren Leben sich um den Tempel drehte, war mit der Heuschreckenplage das Ende des liturgischen Systems verbunden, weil Speisopfer und Trankopfer nicht mehr wie gewohnt dargebracht werden konnten. Der Ablauf der Morgen- und Abendopfer, bei denen nach 2Mose 29,38 und 4Mose 28,3-8 je ein Lamm mit Weizengrieß, Öl und Wein geoopfert werden sollte, kam zum Erliegen. Josephus beschreibt in der „Geschichte des Jüdischen Krieges“ (Sechstes Buch, Kapitel 2, 1) wie „… das Opfer, welches tagtäglich der Gottheit dargebracht wurde, aus Mangel an Männern zum großen Leidwesen des Volkes eingestellt worden“ war. Historisch geht es hier um die Belagerung Jerusalems unter Titus (70 n.Chr.) und der Grund für das Einstellen der Opfer lag darin, dass nicht mehr genug Priester für den Dienst bereit standen; aber wir spüren - losgelöst von den Gründen - etwas von der grundsätzlichen Betroffenheit des Volkes. Auch die Diener des HERRN zur Zeit Joels bringen keine Opfer mehr dar, sondern trauern. Sie können nur feststellen, dass Korn und Wein und Öl, die Bestandteile ihrer Speiseopfer und Trankopfer verwüstet und verdorrt sind.
Joel erwähnt die Priester, weil er möchte. dass die Einwohner Jerusalems ihrem Vorbild folgen. Der eingestellte Tempelopferdienst ist nur ein Indikator für die gestörte Beziehung des Gottesvolkes zu seinem Gott. Jeder Bewohner der Hauptstadt kann durch einen kurzen Spaziergang in den Tempel live erleben, wie angespannt die Situation im Land und mit Gott ist.


1)
Das Bild der Jungfrau erinnert an die „Jungfrau, die Tochter Zion,“ (2Könige 19,21; Klagelieder 2,13)
2)
Weitere Hinweise finden sich in Joel 2,7.9, wo vom Ersteigen der Mauer und vom Überfallen einer Stadt die Rede ist. Außerdem sollen sich in Joel 2,23 die „Söhne Zions“ freuen.
3)
Theoretisch könnte es sich auch um eine Witwe handeln, deren Mann kurz nach dem vollständigen Eheschluss (Verlobung plus Heimholung plus Hochzeitsnacht) gestorben ist, sodass sie die Ehe nicht genießen konnte. Aber das Bild gewinnt an Dramatik, wenn dem nicht so ist (siehe Anmerkung zum Text).
4)
Vgl. 5Mose 22,24; Matthäus 1,19.